Die Anhebung der Rentenaltersgrenze auf 67 Jahre, das wahrscheinliche Auslaufen der Altersteilzeit, die gesetzliche Eindämmung der Vorruhestandsmodelle sowie der unausweichliche demografische Wandel konfrontiert Arbeitgeber mit der Frage nach leidensgerechten Beschäftigungen.
Bis an die Schmerzgrenze
Sie hat komplexe rechtliche Hintergründe, mit denen sich Personalfachleute frühzeitig auseinandersetzen sollten. In der Regel handelt es sich um Fälle, in denen Arbeitnehmer – häufig nach längerer Krankheit – hausärztliche Atteste vorlegen, in denen entweder die Verschlimmerung einer bestehenden Erkrankung für den Fall der Fortsetzung der bisherigen Tätigkeit prognostiziert wird oder aus medizinischer Sicht gewisse Belastbarkeitsgrenzen des Arbeitnehmers aufgezeigt werden.
Typisches Beispiel: Ein gewerblicher Mitarbeiter, legt ein hausärztliches Attest vor, wonach er wegen einer chronisch rezidivierenden Erkrankung der Wirbelsäule keine schweren Arbeiten verrichten sollte, insbesondere sollte das Heben und Tragen von Gewichten über zehn Kilogramm vermieden werden.
Richtig reagieren
In solchen Situationen muss der Arbeitgeber reagieren – und zwar rechtskonform. Dazu ist die Kenntnis der aktuellen Rechtsprechung erforderlich. Der Arbeitgeber ist aufgrund spezieller (§ 81 Absatz 4 Nummer 1 Sozialgesetzbuch, SGB, IX) oder der allgemeinen Fürsorgepflicht (§§ 611 , 618 Bürgerliches Gesetzbuch, BGB; § 106 Gewerbeordnung, GewO) gehalten, seine Erkenntnismöglichkeiten auszuschöpfen und die Einsatzmöglichkeiten des Arbeitnehmers konstruktiv zu klären (Landesarbeitsgericht, LAG Schleswig-Holstein vom 8.Juni 2005 – 3 Sa 30/05).
Dazu bietet sich folgende Vorgehensweise an: Zunächst sollte das Gespräch mit dem Arbeitnehmer über seine Intention sowie Leistungsfähigkeit beziehungsweise deren Einschränkungen gesucht werden.
Zwar hat die Rechtsprechung vorprozessual eine Auskunftspflicht des Arbeitnehmers über die Art der Erkrankung verneint (Stück/Wein, NZA-RR 2005, 508), was eine Frage aber nicht hindert. Der Arbeitgeber sollte eine rechtsverbindliche und abschließende Erklärung des Arbeitnehmers verlangen, ob er – auch im Notfall – seine bisherige beziehungsweise vertraglich geschuldete Tätigkeit nicht ausüben könne und wolle. Gegebenenfalls sollte der Arbeitgeber die Ausübung der bisherigen Tätigkeit bis auf weiteres ausdrücklich verlangen und die Reaktion des Arbeitnehmers abwarten und dokumentieren.
Bei schwerbehinderten Menschen (§ 2 Absatz 2 SGB IX) und Gleichgestellten (§ 2 Absatz 3 in Verbindung mit § 68 Absatz 3 SGB IX) ist die Durchführung eines Präventionsverfahrens (§ 84 Absatz 1 SGB IX) unter Beteiligung von Schwerbehindertenvertretung, Betriebsrat und Integrationsamt erforderlich, um den weiteren Einsatz zu klären. Bei allen anderen Arbeitnehmern sind die Voraussetzungen des betrieblichen Eingliederungsmanagements (§ 84 Absatz 2 SGB IX) zu prüfen.
Die Vorschrift findet bei allen Arbeitnehmern – unabhängig von einer Behinderung – Anwendung, die innerhalb eines Jahres länger als sechs Wochen am Stück oder wiederholt arbeitsunfähig waren (LAG Niedersachsen vom 25.Oktober 2006 – 6 Sa 974/05; LAG Berlin vom 27.Oktober 2005 – 10 Sa 783/05, BB 2006, 560). „Jahr“ meint nicht das letzte Kalenderjahr, sondern es ist vom aktuellen Beurteilungszeitpunkt ein Jahr zurückzublicken.
Das Verfahren findet nicht statt, wenn der über das Verfahren zu informierende Arbeitnehmer dies ablehnt, was dokumentiert werden sollte. Als Eingliederungsmaßnahmen werden meist Versetzungen, Umgestaltung von Arbeitsplatz oder-ablauf, Teilzeit beziehungsweise Arbeitszeitänderungen zu diskutieren sein. Beide Regelungen (§ 84 Absatz 1, 2 SGB IX) stehen unter dem Postulat „Prävention und Rehabilitation vor Entlassung“ (LAG Hamm vom 29.März 2006 – 18 Sa 2104/05).
Gesteigerte Fürsorgepflicht
Der Arbeitgeber ist aufgrund seiner gesteigerten Fürsorgepflicht gegenüber dem schwer behinderten Menschen nach § 81 Absatz 4 Satz 1 Ziffer 1 SGB IX verpflichtet, die diesem verbliebenen körperlichen und geistigen Fähigkeiten und damit seine behindertengerechten Einsatzmöglichkeiten feststellen zu lassen. Ihn trifft also grundsätzlich eine Erkundigungs- beziehungsweise Feststellungspflicht, soweit diesbezüglich Unklarheiten bestehen (LAG Schleswig-Holstein vom 8.Juni 2005 – 3 Sa 30/05).
Entsprechend sollte der Arbeitgeber auch bei nicht behinderten Mitarbeitern verfahren. Der Arbeitgeber sollte dazu den Betriebsarzt konsultieren und den Arbeitnehmer durch ihn arbeitsmedizinisch untersuchen lassen (§ 3 Absatz 1 Nummer 1 f, Gesetz über Betriebsärzte, Sicherheitsingenieure und andere Fachkräfte für Arbeitssicherheit, ASiG; Stück/Wein, NZA-RR 2005, 505).
Dabei geht es nicht darum, ein vorgelegtes hausärztliches Attest zu prüfen, was dem Betriebsarzt verwehrt ist (§ 3 Absatz 3 ASiG), sondern eine valide Empfehlung über den weiteren Arbeitseinsatz aus arbeitsmedizinischer Sicht zu geben. Dieses Vorgehen schützt den Arbeitgeber zum einen vor eventuellen „Gefälligkeitsattesten“ und dem Vorwurf, seine Pflichten verletzt zu haben. Zum anderen gibt es ihm eine fachkundige Entscheidungsgrundlage an die Hand.
Der Arbeitgeber ist aufgrund der Fürsorgepflicht verpflichtet, eine anderweitige leidensgerechte Beschäftigung des Arbeitnehmers zu prüfen und von ihr Gebrauch zu machen, soweit dies möglich und zumutbar ist. Der Arbeitnehmer hat aber grundsätzlich keinen Anspruch auf einen selbst bestimmten Arbeitsplatz oder nach seinen Wünschen und Neigungen beschäftigt zu werden (BAG vom 10.Mai 2005 – 9 AZR 230/04, DB 2006, 55).
Die Entscheidung, welche leidensgerechte Beschäftigung zugewiesen wird, obliegt dem Arbeitgeber aufgrund seines Direktionsrechts, in dessen Rahmen jedoch auf die Gesundheit/ Behinderung Rücksicht zu nehmen ist (§ 106 GewO; BAG vom 8. November 2006 – 5 AZR 51/06).
Die Praxis
In der Praxis bedeutet das: Der Arbeitgeber ist nicht zur Neuschaffung zusätzlicher leidensgerechter Arbeitsplätze angehalten, weil dies unzumutbar in seine geschützte unternehmerische Entscheidungsfreiheit eingriffe (BAG vom 4.Oktober 2005 – 9 AZR 632/04, DB 2006, 902).
Ebenso wenig kann verlangt werden, dass er leidensgerechte Beschäftigungsbereiche nicht aufgibt oder outsourct beziehungsweise wieder insourcen müsste (LAG Schleswig-Holstein vom 7.Juni 2005 – 5 Sa 68/05).
In den Grenzen der Zumutbarkeit und nicht unverhältnismäßiger Aufwendungen ist der Arbeitgeber zur Umgestaltung oder Änderung des bereits vorhandenen nicht leidensgerechten Arbeitsplatzes in einen leidensgerechten verpflichtet, zum Beispiel durch Einsatz technischer Hilfsmittel, Umbau oder Änderungen der Arbeitsorganisation, ‑einteilung, -zuweisung (BAG vom 4.Oktober 2005 – 9 AZR 632/04, DB 2006, 902).
Schwerbehinderte Arbeitnehmer haben hierauf einen einklagbaren Anspruch nach § 81 Absatz 4 Satz 1 Nummer 4 und 5 SGB IX, der sogar eine Vertragsänderung bewirken kann (BAG vom 10. Mai 2005 – 9 AZR 230/04, DB 2006, 55). Hat der Arbeitgeber nicht die in § 84 Absatz 1 SGB IX genannten Fachstellen, insbesondere Arbeitsagentur und Integrationsamt, beteiligt und mit ihnen auch die Möglichkeiten von öffentlichen Zuschüssen erörtert, wird er mit den Einreden der Unzumutbarkeit oder Unverhältnismäßigkeit regelmäßig nicht erfolgreich sein (BAG vom 14. März 2006 – 9 AZR 411 /05, DB 2006, 1624).
Ist ein freier leidensgerechter Alternativarbeitsplatz – also ein anderer als der bisherige und gegebenenfalls umzugestaltende – im Betrieb oder Unternehmen vorhanden, so sollte der Arbeitgeber diesen dem gesundheitlich beeinträchtigten Arbeitnehmer anbieten, wenn er dafür geeignet ist. Ob ein Angebot durch Ausübung des Weisungsrechts oder Vertragsänderung beziehungsweise Änderungskündigung möglich ist, hängt von der Wertigkeit des Arbeitsplatzes und dem Arbeitsvertrag ab. Ist ein leidensgerechter Alternativarbeitsplatz zwar vorhanden, aber mit einem gesunden Arbeitnehmer besetzt, muss und darf der Arbeitgeber dem Stelleninhaber nicht kündigen (BAG vom 29. Januar 1997 – 2 AZR 9/96, DB 1997, 1039). Er ist aber verpflichtet zu versuchen, den leidensgerechten Arbeitsplatz durch Ausübung seines Direktionsrechts (§ 106 Betriebsverfassungsgesetz, BetrVG) frei zu machen (LAG Hamm vom 17.Mai 2001 – 8 (6) Sa 30/01). Hierzu muss sich der Arbeitgeber beim Betriebsrat um die Zustimmung zur Versetzung des leistungsfähigen Arbeitnehmers von dem leidensgerechten Arbeitsplatz weg auf einen anderen Arbeitsplatz bemühen (§§ 99, 95 Absatz 3 BetrVG).
Verweigert der Betriebsrat die Zustimmung, soll der Arbeitgeber bei einem schwer behinderten Arbeitnehmer sogar verpflichtet sein, zu versuchen, den Betriebsrat von seiner die Zustimmung verweigernden Haltung abzubringen und das Zustimmungsersetzungsverfahren einzuleiten, wenn nicht feststeht, dass dem Betriebsrat objektiv Zustimmungsverweigerungsgründe nach § 99 Absatz 2 BetrVG zustehen (BAG vom 3.Dezember 2002 – 9 AZR 481/01, DB 2003, 1230).
Im Streitfall gilt eine komplizierte abgestufte Verteilung der Darlegungs-/ Beweislast: Zunächst hat der Arbeitnehmer grundsätzlich die Darlegungs- und Beweislast für die leidensgerechte Beschäftigungsmöglichkeit, etwa indem er bestimmte Tätigkeiten benennt wie Pförtner, Verwaltung. Dann hat der Arbeitgeber die anspruchshindernden Umstände vorzutragen (BAG vom 14.März 2006 – 9 AZR 411 /05, DB 2006, 1624; BAG vom 10. Mai 2005 – 9 AZR 230/04, DB 2006, 55).
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Unbillige Zuweisung
Der Arbeitgeber ist nicht berechtigt, die Arbeitsleistung des arbeitswilligen und arbeitsfähigen Arbeitnehmers abzulehnen und die Zahlung des Arbeitsentgelts einzustellen, nur weil dieser eine ärztliche Empfehlung für einen schonenderen Arbeitseinsatz vorgelegt hat (LAG Hessen v. 27.11 .2006 – 18/16 Sa 340/06).
Schickt der Arbeitgeber den Arbeitnehmer nach Hause, kann er zur Fortzahlung der Vergütung aus Annahmeverzug verpflichtet sein, wenn der Arbeitnehmer arbeitswillig und arbeitsfähig für seine (bisherige) Tätigkeit war (§§ 615, 293, 297 BGB).
Die Änderung der bisherigen Arbeit durch eine andere Gestaltung des Arbeitsplatzes und zum Beispiel dessen Ausstattung mit technischen Hebehilfen kann insoweit aber nicht verlangt werden (BAG vom 4.Oktober 2005 – 9 AZR 632/04, DB 2006, 902). Ist es dem Arbeitgeber jedoch möglich und zumutbar, dem krankheitsbedingt nur eingeschränkt leistungsfähigen Arbeitnehmer leidensgerechte und vertragsgemäße Arbeiten zuzuweisen, ist die Zuweisung anderer Arbeiten unbillig. Die Einschränkung der Leistungsfähigkeit des Arbeitnehmers steht dann dem Annahmeverzug des Arbeitgebers nicht entgegen (BAG vom 8. November 2006 – 5 AZR 51/06).
War der Arbeitnehmer nicht willens oder in der Lage, seine bisherigen Arbeiten am unveränderten Arbeitsplatz weiter auszuführen, kann er einen Schadensersatzanspruch geltend machen, wenn der Arbeitgeber seine oben genannten Fürsorge- beziehungsweise Schutzpflichten schuldhaft (§ 276 BGB) verletzt hat. Anspruchsgrundlage sind dann § 280 Absatz 1 BGB und § 823 Absatz 2 BGB in Verbindung mit § 81 Absatz 4 Satz 1 SGB IX (BAG vom 4.Oktober 2005 – 9 AZR 632/04, DB 2006, 902).
Der Schaden besteht in der entgangenen Vergütung des bisherigen beziehungsweise leidensgerechten Arbeitsplatzes, gegebenenfalls abzüglich empfangenen Arbeitslosengeldes (§§ 143 Absatz 3 SGB III in Verbindung mit § 11 5 SGB X).
Hat der Arbeitgeber kein Präventions-/ Eingliederungsverfahren (§ 84 SGB IX) durchgeführt, wirkt sich dies nachteilig im Rahmen einer krankheitsbedingten Kündigung aus. Diese ist zwar deshalb nicht formell unwirksam (BAG vom 7. Dezember 2006 – 2 AZR 182/06). Sie ist aber nur dann sozial gerechtfertigt (§ 1 Absatz 2 Kündigungsschutzgesetz, KSchG), wenn es keine leidensgerechten Arbeitsplätze zu gleichen oder schlechteren Bedingungen im Betrieb oder Unternehmen gibt, auf denen eine Weiterbeschäftigung möglich wäre. Es gilt der erwähnte Grundsatz: Prävention und Rehabilitation vor Entlassung.
Längst geht es aber nicht mehr nur um körperlichen Verschleiß im gewerblichen Bereich. Vielmehr stehen die psychischen Erkrankungen inzwischen an vierter Stelle der Arbeitsunfähigkeitsursachen – Tendenz steigend.
Regelmäßig stellen solche Atteste nicht etwa fest, dass der Arbeitnehmer nicht mehr in der Lage wäre, seine bisherige Tätigkeit im vollen Umfang weiter auszuüben. Stattdessen steht darin, dass ein anderer Arbeitsplatz seiner Gesundheit förderlicher, für ihn angenehmer wäre und seine Fehlzeiten verringerte.
Ein solches Attest kann also nicht ohne weiteres dem „gelben Schein“ gleichgesetzt werden (Bundesarbeitsgericht, BAG, vom 17. Februar 1998 – 9 AZR 130/97, BB 1998, 2478).
Ziel ist es vielmehr, die Zuweisung einer leichteren Arbeit zu erreichen. Arbeitsunfähigkeit im arbeitsrechtlichen Sinne liegt nur vor, wenn ein Arbeitnehmer infolge einer Krankheit nicht oder nur mit der Gefahr, seinen gesundheitlichen Zustand in absehbar naher Zeit zu verschlimmern, fähig ist, seiner bisherigen Arbeitstätigkeit nachzugehen (BAG vom 9. Januar 1985 – 5 AZR 415/82, DB 1985, 977).
Entscheidend ist dabei allein die objektiv medizinische Lage; die subjektive Einschätzung des Arbeitnehmersoder Arbeitgebers ist dagegen irrelevant (BAG vom 29. Oktober 1998 – 2 AZR 666/97, DB 1999, 805; BAG vom 17.Juni 1999 – 2 AZR 639/98, DB 1999, 1399).
Bis an die Schmerzgrenze
Sie hat komplexe rechtliche Hintergründe, mit denen sich Personalfachleute frühzeitig auseinandersetzen sollten. In der Regel handelt es sich um Fälle, in denen Arbeitnehmer – häufig nach längerer Krankheit – hausärztliche Atteste vorlegen, in denen entweder die Verschlimmerung einer bestehenden Erkrankung für den Fall der Fortsetzung der bisherigen Tätigkeit prognostiziert wird oder aus medizinischer Sicht gewisse Belastbarkeitsgrenzen des Arbeitnehmers aufgezeigt werden.
Typisches Beispiel: Ein gewerblicher Mitarbeiter, legt ein hausärztliches Attest vor, wonach er wegen einer chronisch rezidivierenden Erkrankung der Wirbelsäule keine schweren Arbeiten verrichten sollte, insbesondere sollte das Heben und Tragen von Gewichten über zehn Kilogramm vermieden werden.
Richtig reagieren
In solchen Situationen muss der Arbeitgeber reagieren – und zwar rechtskonform. Dazu ist die Kenntnis der aktuellen Rechtsprechung erforderlich. Der Arbeitgeber ist aufgrund spezieller (§ 81 Absatz 4 Nummer 1 Sozialgesetzbuch, SGB, IX) oder der allgemeinen Fürsorgepflicht (§§ 611 , 618 Bürgerliches Gesetzbuch, BGB; § 106 Gewerbeordnung, GewO) gehalten, seine Erkenntnismöglichkeiten auszuschöpfen und die Einsatzmöglichkeiten des Arbeitnehmers konstruktiv zu klären (Landesarbeitsgericht, LAG Schleswig-Holstein vom 8.Juni 2005 – 3 Sa 30/05).
Dazu bietet sich folgende Vorgehensweise an: Zunächst sollte das Gespräch mit dem Arbeitnehmer über seine Intention sowie Leistungsfähigkeit beziehungsweise deren Einschränkungen gesucht werden.
Zwar hat die Rechtsprechung vorprozessual eine Auskunftspflicht des Arbeitnehmers über die Art der Erkrankung verneint (Stück/Wein, NZA-RR 2005, 508), was eine Frage aber nicht hindert. Der Arbeitgeber sollte eine rechtsverbindliche und abschließende Erklärung des Arbeitnehmers verlangen, ob er – auch im Notfall – seine bisherige beziehungsweise vertraglich geschuldete Tätigkeit nicht ausüben könne und wolle. Gegebenenfalls sollte der Arbeitgeber die Ausübung der bisherigen Tätigkeit bis auf weiteres ausdrücklich verlangen und die Reaktion des Arbeitnehmers abwarten und dokumentieren.
Bei schwerbehinderten Menschen (§ 2 Absatz 2 SGB IX) und Gleichgestellten (§ 2 Absatz 3 in Verbindung mit § 68 Absatz 3 SGB IX) ist die Durchführung eines Präventionsverfahrens (§ 84 Absatz 1 SGB IX) unter Beteiligung von Schwerbehindertenvertretung, Betriebsrat und Integrationsamt erforderlich, um den weiteren Einsatz zu klären. Bei allen anderen Arbeitnehmern sind die Voraussetzungen des betrieblichen Eingliederungsmanagements (§ 84 Absatz 2 SGB IX) zu prüfen.
Die Vorschrift findet bei allen Arbeitnehmern – unabhängig von einer Behinderung – Anwendung, die innerhalb eines Jahres länger als sechs Wochen am Stück oder wiederholt arbeitsunfähig waren (LAG Niedersachsen vom 25.Oktober 2006 – 6 Sa 974/05; LAG Berlin vom 27.Oktober 2005 – 10 Sa 783/05, BB 2006, 560). „Jahr“ meint nicht das letzte Kalenderjahr, sondern es ist vom aktuellen Beurteilungszeitpunkt ein Jahr zurückzublicken.
Das Verfahren findet nicht statt, wenn der über das Verfahren zu informierende Arbeitnehmer dies ablehnt, was dokumentiert werden sollte. Als Eingliederungsmaßnahmen werden meist Versetzungen, Umgestaltung von Arbeitsplatz oder-ablauf, Teilzeit beziehungsweise Arbeitszeitänderungen zu diskutieren sein. Beide Regelungen (§ 84 Absatz 1, 2 SGB IX) stehen unter dem Postulat „Prävention und Rehabilitation vor Entlassung“ (LAG Hamm vom 29.März 2006 – 18 Sa 2104/05).
Gesteigerte Fürsorgepflicht
Der Arbeitgeber ist aufgrund seiner gesteigerten Fürsorgepflicht gegenüber dem schwer behinderten Menschen nach § 81 Absatz 4 Satz 1 Ziffer 1 SGB IX verpflichtet, die diesem verbliebenen körperlichen und geistigen Fähigkeiten und damit seine behindertengerechten Einsatzmöglichkeiten feststellen zu lassen. Ihn trifft also grundsätzlich eine Erkundigungs- beziehungsweise Feststellungspflicht, soweit diesbezüglich Unklarheiten bestehen (LAG Schleswig-Holstein vom 8.Juni 2005 – 3 Sa 30/05).
Entsprechend sollte der Arbeitgeber auch bei nicht behinderten Mitarbeitern verfahren. Der Arbeitgeber sollte dazu den Betriebsarzt konsultieren und den Arbeitnehmer durch ihn arbeitsmedizinisch untersuchen lassen (§ 3 Absatz 1 Nummer 1 f, Gesetz über Betriebsärzte, Sicherheitsingenieure und andere Fachkräfte für Arbeitssicherheit, ASiG; Stück/Wein, NZA-RR 2005, 505).
Dabei geht es nicht darum, ein vorgelegtes hausärztliches Attest zu prüfen, was dem Betriebsarzt verwehrt ist (§ 3 Absatz 3 ASiG), sondern eine valide Empfehlung über den weiteren Arbeitseinsatz aus arbeitsmedizinischer Sicht zu geben. Dieses Vorgehen schützt den Arbeitgeber zum einen vor eventuellen „Gefälligkeitsattesten“ und dem Vorwurf, seine Pflichten verletzt zu haben. Zum anderen gibt es ihm eine fachkundige Entscheidungsgrundlage an die Hand.
Der Arbeitgeber ist aufgrund der Fürsorgepflicht verpflichtet, eine anderweitige leidensgerechte Beschäftigung des Arbeitnehmers zu prüfen und von ihr Gebrauch zu machen, soweit dies möglich und zumutbar ist. Der Arbeitnehmer hat aber grundsätzlich keinen Anspruch auf einen selbst bestimmten Arbeitsplatz oder nach seinen Wünschen und Neigungen beschäftigt zu werden (BAG vom 10.Mai 2005 – 9 AZR 230/04, DB 2006, 55).
Die Entscheidung, welche leidensgerechte Beschäftigung zugewiesen wird, obliegt dem Arbeitgeber aufgrund seines Direktionsrechts, in dessen Rahmen jedoch auf die Gesundheit/ Behinderung Rücksicht zu nehmen ist (§ 106 GewO; BAG vom 8. November 2006 – 5 AZR 51/06).
Die Praxis
In der Praxis bedeutet das: Der Arbeitgeber ist nicht zur Neuschaffung zusätzlicher leidensgerechter Arbeitsplätze angehalten, weil dies unzumutbar in seine geschützte unternehmerische Entscheidungsfreiheit eingriffe (BAG vom 4.Oktober 2005 – 9 AZR 632/04, DB 2006, 902).
Ebenso wenig kann verlangt werden, dass er leidensgerechte Beschäftigungsbereiche nicht aufgibt oder outsourct beziehungsweise wieder insourcen müsste (LAG Schleswig-Holstein vom 7.Juni 2005 – 5 Sa 68/05).
In den Grenzen der Zumutbarkeit und nicht unverhältnismäßiger Aufwendungen ist der Arbeitgeber zur Umgestaltung oder Änderung des bereits vorhandenen nicht leidensgerechten Arbeitsplatzes in einen leidensgerechten verpflichtet, zum Beispiel durch Einsatz technischer Hilfsmittel, Umbau oder Änderungen der Arbeitsorganisation, ‑einteilung, -zuweisung (BAG vom 4.Oktober 2005 – 9 AZR 632/04, DB 2006, 902).
Schwerbehinderte Arbeitnehmer haben hierauf einen einklagbaren Anspruch nach § 81 Absatz 4 Satz 1 Nummer 4 und 5 SGB IX, der sogar eine Vertragsänderung bewirken kann (BAG vom 10. Mai 2005 – 9 AZR 230/04, DB 2006, 55). Hat der Arbeitgeber nicht die in § 84 Absatz 1 SGB IX genannten Fachstellen, insbesondere Arbeitsagentur und Integrationsamt, beteiligt und mit ihnen auch die Möglichkeiten von öffentlichen Zuschüssen erörtert, wird er mit den Einreden der Unzumutbarkeit oder Unverhältnismäßigkeit regelmäßig nicht erfolgreich sein (BAG vom 14. März 2006 – 9 AZR 411 /05, DB 2006, 1624).
Ist ein freier leidensgerechter Alternativarbeitsplatz – also ein anderer als der bisherige und gegebenenfalls umzugestaltende – im Betrieb oder Unternehmen vorhanden, so sollte der Arbeitgeber diesen dem gesundheitlich beeinträchtigten Arbeitnehmer anbieten, wenn er dafür geeignet ist. Ob ein Angebot durch Ausübung des Weisungsrechts oder Vertragsänderung beziehungsweise Änderungskündigung möglich ist, hängt von der Wertigkeit des Arbeitsplatzes und dem Arbeitsvertrag ab. Ist ein leidensgerechter Alternativarbeitsplatz zwar vorhanden, aber mit einem gesunden Arbeitnehmer besetzt, muss und darf der Arbeitgeber dem Stelleninhaber nicht kündigen (BAG vom 29. Januar 1997 – 2 AZR 9/96, DB 1997, 1039). Er ist aber verpflichtet zu versuchen, den leidensgerechten Arbeitsplatz durch Ausübung seines Direktionsrechts (§ 106 Betriebsverfassungsgesetz, BetrVG) frei zu machen (LAG Hamm vom 17.Mai 2001 – 8 (6) Sa 30/01). Hierzu muss sich der Arbeitgeber beim Betriebsrat um die Zustimmung zur Versetzung des leistungsfähigen Arbeitnehmers von dem leidensgerechten Arbeitsplatz weg auf einen anderen Arbeitsplatz bemühen (§§ 99, 95 Absatz 3 BetrVG).
Verweigert der Betriebsrat die Zustimmung, soll der Arbeitgeber bei einem schwer behinderten Arbeitnehmer sogar verpflichtet sein, zu versuchen, den Betriebsrat von seiner die Zustimmung verweigernden Haltung abzubringen und das Zustimmungsersetzungsverfahren einzuleiten, wenn nicht feststeht, dass dem Betriebsrat objektiv Zustimmungsverweigerungsgründe nach § 99 Absatz 2 BetrVG zustehen (BAG vom 3.Dezember 2002 – 9 AZR 481/01, DB 2003, 1230).
Im Streitfall gilt eine komplizierte abgestufte Verteilung der Darlegungs-/ Beweislast: Zunächst hat der Arbeitnehmer grundsätzlich die Darlegungs- und Beweislast für die leidensgerechte Beschäftigungsmöglichkeit, etwa indem er bestimmte Tätigkeiten benennt wie Pförtner, Verwaltung. Dann hat der Arbeitgeber die anspruchshindernden Umstände vorzutragen (BAG vom 14.März 2006 – 9 AZR 411 /05, DB 2006, 1624; BAG vom 10. Mai 2005 – 9 AZR 230/04, DB 2006, 55).
Mehr zum Thema: Arbeitsrecht
Artikel
Arbeitnehmer müssen rasch reagieren (06.03. 08:46)
Artikel
Nachlässigkeit kann Job kosten (03.03. 08:44)
Chef darf Mitarbeiter nicht krank reden (24.02. 13:37)
Unbillige Zuweisung
Der Arbeitgeber ist nicht berechtigt, die Arbeitsleistung des arbeitswilligen und arbeitsfähigen Arbeitnehmers abzulehnen und die Zahlung des Arbeitsentgelts einzustellen, nur weil dieser eine ärztliche Empfehlung für einen schonenderen Arbeitseinsatz vorgelegt hat (LAG Hessen v. 27.11 .2006 – 18/16 Sa 340/06).
Schickt der Arbeitgeber den Arbeitnehmer nach Hause, kann er zur Fortzahlung der Vergütung aus Annahmeverzug verpflichtet sein, wenn der Arbeitnehmer arbeitswillig und arbeitsfähig für seine (bisherige) Tätigkeit war (§§ 615, 293, 297 BGB).
Die Änderung der bisherigen Arbeit durch eine andere Gestaltung des Arbeitsplatzes und zum Beispiel dessen Ausstattung mit technischen Hebehilfen kann insoweit aber nicht verlangt werden (BAG vom 4.Oktober 2005 – 9 AZR 632/04, DB 2006, 902). Ist es dem Arbeitgeber jedoch möglich und zumutbar, dem krankheitsbedingt nur eingeschränkt leistungsfähigen Arbeitnehmer leidensgerechte und vertragsgemäße Arbeiten zuzuweisen, ist die Zuweisung anderer Arbeiten unbillig. Die Einschränkung der Leistungsfähigkeit des Arbeitnehmers steht dann dem Annahmeverzug des Arbeitgebers nicht entgegen (BAG vom 8. November 2006 – 5 AZR 51/06).
War der Arbeitnehmer nicht willens oder in der Lage, seine bisherigen Arbeiten am unveränderten Arbeitsplatz weiter auszuführen, kann er einen Schadensersatzanspruch geltend machen, wenn der Arbeitgeber seine oben genannten Fürsorge- beziehungsweise Schutzpflichten schuldhaft (§ 276 BGB) verletzt hat. Anspruchsgrundlage sind dann § 280 Absatz 1 BGB und § 823 Absatz 2 BGB in Verbindung mit § 81 Absatz 4 Satz 1 SGB IX (BAG vom 4.Oktober 2005 – 9 AZR 632/04, DB 2006, 902).
Der Schaden besteht in der entgangenen Vergütung des bisherigen beziehungsweise leidensgerechten Arbeitsplatzes, gegebenenfalls abzüglich empfangenen Arbeitslosengeldes (§§ 143 Absatz 3 SGB III in Verbindung mit § 11 5 SGB X).
Hat der Arbeitgeber kein Präventions-/ Eingliederungsverfahren (§ 84 SGB IX) durchgeführt, wirkt sich dies nachteilig im Rahmen einer krankheitsbedingten Kündigung aus. Diese ist zwar deshalb nicht formell unwirksam (BAG vom 7. Dezember 2006 – 2 AZR 182/06). Sie ist aber nur dann sozial gerechtfertigt (§ 1 Absatz 2 Kündigungsschutzgesetz, KSchG), wenn es keine leidensgerechten Arbeitsplätze zu gleichen oder schlechteren Bedingungen im Betrieb oder Unternehmen gibt, auf denen eine Weiterbeschäftigung möglich wäre. Es gilt der erwähnte Grundsatz: Prävention und Rehabilitation vor Entlassung.
Längst geht es aber nicht mehr nur um körperlichen Verschleiß im gewerblichen Bereich. Vielmehr stehen die psychischen Erkrankungen inzwischen an vierter Stelle der Arbeitsunfähigkeitsursachen – Tendenz steigend.
Regelmäßig stellen solche Atteste nicht etwa fest, dass der Arbeitnehmer nicht mehr in der Lage wäre, seine bisherige Tätigkeit im vollen Umfang weiter auszuüben. Stattdessen steht darin, dass ein anderer Arbeitsplatz seiner Gesundheit förderlicher, für ihn angenehmer wäre und seine Fehlzeiten verringerte.
Ein solches Attest kann also nicht ohne weiteres dem „gelben Schein“ gleichgesetzt werden (Bundesarbeitsgericht, BAG, vom 17. Februar 1998 – 9 AZR 130/97, BB 1998, 2478).
Ziel ist es vielmehr, die Zuweisung einer leichteren Arbeit zu erreichen. Arbeitsunfähigkeit im arbeitsrechtlichen Sinne liegt nur vor, wenn ein Arbeitnehmer infolge einer Krankheit nicht oder nur mit der Gefahr, seinen gesundheitlichen Zustand in absehbar naher Zeit zu verschlimmern, fähig ist, seiner bisherigen Arbeitstätigkeit nachzugehen (BAG vom 9. Januar 1985 – 5 AZR 415/82, DB 1985, 977).
Entscheidend ist dabei allein die objektiv medizinische Lage; die subjektive Einschätzung des Arbeitnehmersoder Arbeitgebers ist dagegen irrelevant (BAG vom 29. Oktober 1998 – 2 AZR 666/97, DB 1999, 805; BAG vom 17.Juni 1999 – 2 AZR 639/98, DB 1999, 1399).